Vor der Ersterwähnung

In den vergangenen Jahren feierten viele Dörfer und Städte unserer Umgebung einen runden Jahrestag ihrer geschichtlichen Ersterwähnung. Diese ersten schriftlichen Erwähnungen in mittelalterlichen Urkunden reichen im Fall von Wersau 710 Jahre, ins Jahr 1314 zurück, in unserem Nachbarort Brensbach sind es 800 Jahre. Mit dem eigentlichen Alter jeweiliger Ortschaft hat dieser zufällig durch einen Schriftgelehrten festgehaltene Zeitpunkt aber nichts zu tun. Wersau und Brensbach sind deutlich älter. Um unsere Vergangenheit vor der ersten schriftlichen Erwähnung - nämlich der Vorgeschichte - zu erforschen, müssen wir das untersuchen, was der Erdboden über die Zeit konservieren konnte. Die früheste Anwesenheit von Menschen im Bereich von Wersau kann durch Bodenfunde auf eine Zeit um 4500 vor Christus datiert werden. Die frühesten Belege für eine Besiedlung reichen in die Keltenzeit - um 400 vor Christus - zurück. Weitere 500 Jahre später waren die Römer hier.
Diese und viele weitere Aussagen zu unserer Heimat, können wir heute anhand archäologischer Expertisen treffen. Im Jahr 2023 erschien zur 800jährigen Ersterwähnung Brensbachs das Buch 'Brensbach - Eine Zeitreise', an dem auch Vereinsmitglieder des HuGV als Autoren mitwirkten. So beim ersten Teil des Buches. Hier werden erstmals alle bisher bekannten archäologischen Funde im Gemeindegebiet chronologisch und mit Bildern aufgeführt. Ein Großteil dieser Funde stammt aus Wersauer Gemarkung, was auch ein Verdienst der HuGV ist. In den vergangenen Jahren und insbesondere während der Coronazeit, konnten in und um Wersche viele interessante Funde aus dem Boden geholt und, durch die Zusammenarbeit mit der Landesarchäologie, auch auf Basis des derzeitigen Forschungsstands gedeutet werden. Im Zuge der Recherchearbeit zum Buchbeitrag wurden vom HuGV einige weitere spannende Entdeckungen gemacht und wahrscheinlich sogar Grabschänder aus Übersee entlarvt, wie es im 2021er "hessenArchäologie" publiziert wurde.

An dieser Stelle wird der HuGV ab 2024 alle rund um Wersau bekannten Bodenfunde und die entsprechenden Forschungsergebnisse vorstellen. Kommen Sie mit uns auf eine Zeitreise ins ganz, ganz, ganz alte Wersche.


Vorgeschichtliche Fundstellen

Der Bensenböhlskopf
Auf dem westlichen Randbereich Wersauer Gemarkung befindet sich der Fuß eines besonderen Bergs, dessen Doppelkuppe heute nicht mehr existiert. Wo sich noch vor einigen Jahzehnten der 230m hohe Bensenböhlskopf befand, klafft jetzt das tiefe Loch des Steinbruchs Groß-Bieberau.

Abb: Der ausgehöhlte Bensenböhlskopf. Rechts Wersau, Brensbach und Höllerbach. Mitte-links Hippelsbach und der Otzberg. Links die Hundertmorgen (Foto: M.Tischler)

 

Alleine die Deutung des Namens fasziniert und beschäftigt Historiker und Sprachforscher seit langer Zeit und immer wieder. Das Wort Bensen (oder auch Benzen) wurde im Mittelalter und in der frühen Neuzeit im Südwesten Deutschlands oft für Dinge verwendet, die dem Menschen unheimlich, schaurig oder übernatürlich vorkamen. Der Bensnickel oder Belznickel, der hierzulande noch bis vor wenigen Jahrzehnten zu Weihnachten die Kinder beschenkte oder auch bestrafte, ist vielen noch geläufig. Das römische Kastell Hainhaus am Odenwaldlimes trägt auch den Namen Benzenburg oder Geisterburg. Unter dem Wort Böhl oder Bühl findet man in alten Wörterbüchern die Bedeutung Beule, Buckel, kuppelförmige Anhöhe. Der Bensenböhlskopf könnte demnach der Bedeutung Geisterhügelberg gleichstehen, was in Anbetracht der Grabstätten und Funde aus fast fünf Jahrtausenden der Vorgeschichte schlüssig erscheinen mag. Auf seinen beiden Kuppen befanden sich mindestens sieben Hügelgräber.

Durch die fortschreitende Ausdehnung des Steinbruchs drohte deren Zerstörung. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre konnten sie durch archäologische Notgrabungen erfasst und dokumentiert werden, bevor die Schwerindustrie diesen Bereich schluckte. Durchgeführt wurden die Untersuchungen vom Direktor des Dieburger Museums Walter Boß, zusammen mit archäologie-interessierten Helfern der Archäologischen und Volkskundlichen Arbeitsgemeinschaft Dieburg e.V. (AVA). Die dabei erlangten Befunde liefern der Archäologie bis heute weitreichende Erkenntnisse und werfen gleichermaßen Fragen auf.

(Foto: AVA Dieburg)

 

Eine Besonderheit der Nekropole stellt das enorm große Zeitfenster dar, das sich infolge der Altersbestimmung aller gesicherten Grabbeigaben öffnet. In den verhältnismäßig großen Hügeln, mit Durchmessern zwischen 14m und 16m und Höhen bis 1,80m, konnten jeweils mehrere Bestattungen aus unterschiedlichsten Epochen der Menschheitsgeschichte entdeckt werden. Die älteste Zeitstellung erfolgte für Keramikscherben und Feuerstein-Abschläge, die aus der Aufschüttung von Hügel IV stammen und dem Ende der Jungsteinzeit (um 2200 v.Chr.) zugeschrieben wurden. Im gleichen Hügel fand man einen Bronzehalsring aus der hier erst um 800 v.Chr. beginnenden Hallstattkultur der frühen Eisenzeit. Einer der jüngsten und vielleicht der beeindruckendste Fund, den man zutage befördern konnte, ist das Eisenschwert aus Hügel II. Es steckt noch in seiner ebenfalls aus Eisen gefertigten Scheide und wird der keltischen Laténekultur der späteren Eisenzeit zugeschrieben, die um 450 v.Chr. begann und bis kurz vor die Zeitenwende andauerte. In Hügel V dokumentierte die AVA ganze sieben einzelne Bestattungen.

Abb: Modell von Grabhügel V, ausgestellt im Dieburger Museum Schloss Fechenbach. Der Steinkranz hatte einen Durchmesser von 15m. Die Resthöhe der Hügelaufschüttung betrug noch zwei Meter. (Foto: Museum Schloss Fechenbach)

 

Wie bei fast allen Grabhügeln am Bensenböhlskopf fand man auch hier die Zentralbestattung von Grabräubern auseinandergerissen und ausgeraubt vor, konnte aber bei den restlichen Grabstellen diverses Fundmaterial sichern. Eine Bronze-Radnadel (die auch zum Vereinssymbol der AVA wurde), eine Halskette mit sechs Spiralröhrchen und drei Bernstein-Perlen sowie Fragmente einer Armspirale gehören zu einem Frauengrab aus der Hügelgräberkultur (frühe/mittlere BZ um 1500 v.Chr). Das graue Tongefäß aus einem benachbarten Grab desselben Hügels stammt aus der Urnenfelderkultur (späte BZ um 1000 v.Chr.) und die Arm- und Beinringe eines weiteren Grabs aus der späten Hallstattkultur (mittlere Eisenzeit um 500 v.Chr.). Man bezeichnet diese Praxis als Nachbestattung. Dazu tiefte man den älteren Grabhügel an einer Stelle ein und vergrößerte ihn nach der Beisetzung durch An- oder Aufschüttungen. Von der Annahme ausgehend, dass man seine Angehörigen nach deren Ableben nur in guter Gesellschaft beerdigen möchte, drängt sich die Vermutung auf, dass am westlichen Rand der Brensbacher Großgemeinde über eine lange Zeit hinweg die verschiedenen Kulturen mehr oder weniger friedlich ineinander aufgingen und am gleichen Ort bestatteten. Die Funde aus der Jungsteinzeit, die sich umgelagert in der Hügelaufschüttung fanden, deuten eine Besiedlung des Hügels bereits zu dieser Zeit an. Denn die Funde lagen bereits in der Erde, die zum Aufschütten des Hügels aus der Umgebung zusammengetragen wurde.

(Foto: AVA Dieburg)

 

Die drei Bernsteinperlen des Frauengrabes bestätigen weitreichende Handelsvernetzungen, die bereits vor 3500 Jahren bis zur Nord- oder Ostsee gereicht haben müssen, wo es die nächsten Bernsteinvorkommen gibt. Während der Bronzezeit entstanden in ganz Europa Handelsrouten, um Kupfer und vor allem das seltene Zinn für die Bronzeherstellung importieren zu können. Ob die ansässigen Siedler das am Bensenböhlskopf vorhandene Kupfer, das hier in metamorphem Schiefer vorkommt, ausbeuten und für die Bronzeproduktion nutzen konnten, bleibt bisher unbelegt.

Der Wall
Der Sekretär des Historischen Vereins des Großherzogtums Hessen, Dr. Walther, beschreibt in einer Publikation von 1869 nicht nur vier der Hügelgräber am Bensenböhlskopf, sondern auch einen halbkreisförmigen Wall, der sich an der östlichen Flanke der nördliche Bergkuppe befunden haben soll. Man kann nicht ausschließen, dass es sich bei dem (…) „270 Schritte langen und überall 10 Schritte breiten Erdwall“ (…) um die Befestigung einer Höhensiedlung gehandelt hat. Die Archäologie spricht von einem nahezu schlagartigen Entstehen von befestigten Höhensiedlungen im süddeutschen Raum der späten Bronzezeit und belegt durch etliche Grabungsbefunde gewaltsame Überfälle und auch das eine oder andere größere Massaker, dem viele Dorfgemeinschaften zum Opfer gefallen sind. Wer die Bronzetechnik beherrschte, war klar im Vorteil und konnte mit der Formguss-Technik nicht nur Werkzeug und Schmuck fertigen, sondern auch schnell viele seiner Leute mit guten Waffen ausstatten. Andere Clans bzw. Siedlungsgemeinschaften hatten weniger Zugang zu dem begehrten Material und allen Vorteilen, die es mit sich brachte. So kam es zu starken sozialen Unterschieden. Machtansprüche, Neid und Habgier führten zu bewaffneten Konflikten. Dass die Menschen sich zu dieser Zeit aber auf Bergspornen mit Grabstätten verschanzten, gilt als eher untypisch und so kommen auch vorhergehende und nachfolgende Epochen für die Aufschüttung des Erdwalls am Bensenböhlskopf infrage. Das Gleiche gilt für den zwischen Ueberau und Groß-Bieberau gelegenen, vulkanischen Basalt-Hügel Forstberg, an dem laut Dr. Walther ebenfalls das Bestehen eines ehemaligen Ringwalls überliefert sein soll.

Sämtliche Bodenfunde der Grabungen vom Bensenböhlskopf sind im Dieburger Museum Schloss Fechenbach auf beeindruckende Weise ausgestellt.

Marco Tischler 2023 - aus Brensbach - eine Zeitreise